Geierwally Superstar

16.04.2025
Kultur
Tradition
Alexandra Keller
Sie war eine eigenwillige Tiroler Künstlerin – selbstständig, kurzhaarig, mit eigenem Bankkonto und einem Doppelnamen. Sie bot einer Zeit die Stirn, die derart selbstbestimmte Frauen noch gar nicht kannte. Und weil sie auch noch so todesverachtend wie vielbeachtet einen Adlerhorst im heimatlichen Lechtal räumte, wurde Anna Stainer-Knittel (1841-1915) berühmt. Aus dem Adler wurde ein Geier, aus Anna eine Wally – und aus der Romanfigur eine ewige Inspiration – in Tirol und weit darüber hinaus.

Diese Wirkkraft raubt den Atem. Mit der Oper „La Wally“ steht die Geierwally und damit irgendwie auch die Tiroler Künstlerin Anna Stainer-Knittel immer wieder auf allen großen Opernbühnen der Welt. Erstmals 1892 in der Scala in Mailand und im Februar 2025 erst in Verona. Maria Callas schenkte der Tiroler Heldin ihre legendäre Stimme und Dirigent Arturo Toscanini nannte sogar seine Tochter Wally, weil ihm das Werk Alfredo Catalanis so gefallen hat. Der italienische Komponist hatte den 1873 erschienenen Bestseller Die Geier-Wally von Wilhelmine von Hillern gelesen und war derart begeistert davon, dass er mit dem Stoff das Werk schuf, das Gustav Mahler als „beste italienische Oper“ bezeichnete. Und die beste italienische Oper spielt in den Tiroler Bergen

Ein Selbstbildnis von Anna Stainer-Knittel, noch mit langem Haar

Der Highlights damit aber nicht genug. In zahlreichen Versionen wurde die Geierwally auf den Kinoleinwänden lebendig. Der erste Film – noch stumm – wurde 1921 gedreht, der vielleicht berühmteste im Jahr 1956 – mit Barbara Rütting (1927 – 2020) in der Hauptrolle und dem stattlichen Hafelekar als Haupt-Drehort.

In der 2013 ausgestrahlten ARD-Dokumentation „Drama am Berg“ erzählte die Berliner Schauspielerin ihrem Kollegen Harald Krassnitzer beispielsweise, wie der Filmgeier ihr damals die Haare ausgerissen hat. Anka hieß das das bissige Tier und die Hütte am Hafelekar wurde wegen der Dreharbeiten Geierwally-Hütte getauft.

Wird der Blick von der Geierwally dirigiert führt nicht ins Ötztal, wo der Roman spielt. Nein, er führt zum Originalschauplatz des ewig bewegenden Dramas – ins Lechtal, nach Elbigenalp. Dort wurde der Geierwally die großartige Felsenbühne gewidmet – eröffnet 1993 mit der Bühnenversion aus der Feder des Autors Felix Mitterer. 2023 wurde das Stück zum 30. Jubiläum der Geierwally-Freilichtbühne wiederbelebt – anders und neu. Die Geierwally bleibt ein Tiroler Superstar und eine ewige Identifikationsfigur. Die Geierwally steht für das starke, selbstbewusste und unbeugsame urtiroler Weibsbild. Doch die reale Geschichte der Frau, die im 19. Jahrhundert zur Geschichte inspirierte, ist noch spannender, kraftvoller und stärker.

Die Geschichte von Anna Stainer-Knittel wurde unzählige Male verfilmt.

Denn Anna Stainer-Knittel war als eigenwillige Tiroler Künstlerin ein Role Model für Frauen, die sich viel trauen. Wider alle Hemmschwellen kämpfte sie darum, ihr Leben selbst zu bestimmen. Sie zählte zu den ersten Frauen im Habsburger-Reich, die den traditionell vorgezeichneten Weg verließen, um ein kreatives und ökonomisch unabhängiges Leben zu führen. Dass sie als Geierwally in die Geschichte einging, wird ihrem Leben nicht gerecht – und auch nicht ihrem Werk.

Als Anna Knittel 1841 zur Welt kam, war Innsbruck noch eine Tagesreise von Elbigenalp entfernt. Vier Jahre zuvor war die spätere Kaiserin Sisi geboren worden, vier Jahre später sollte der spätere Bayernkönig Ludwig II. das Licht der Welt erblicken. Anna Knittel wuchs in einer Zeit auf, in der Revolutionen den Kontinent erbeben ließen und in der technische Errungenschaften zunehmend die Welt veränderten. Die Welt draußen zumindest, denn zwischen den hohen Wänden der Lechtaler und Allgäuer Alpen – der Natur und ihren unberechenbaren Launen so nah – waren Leben und Überleben kaum Fragen akademischer Diskussionen. Auch nicht im Haus von Anton und Kreszenz Knittel, Annas Eltern.

Anton Knittel war Bauer, talentierter Büchsenmacher und Jäger – in Elbigenalp und darüber hinaus berüchtigt für seinen teils hitzköpfigen Zorn. Mit ihm verband Anna eine enge und stürmische Beziehung. Oft hatte sie unter seinen Ausbrüchen zu leiden und doch war er es, der ihr Talent entdeckte und zu einem ihrer stärksten Unterstützer wurde. Als seine Tochter die Volksschule besuchte, wo sie unter anderem die Mitschüler:innen gekonnt und originell karikierte, zeigte der Vater die Zeichnungen der Tochter dem bekannten Maler, Universalgelehrten und Lithografen Johann Anton Falger. Er entfachte damit das Feuer.

Nach diesbezüglich bitteren Zeiten im heimischen „Duarf“ wendete sich das Blatt und auch ihr Schicksal, als 1859 ein elegant gekleideter Mann die Straße des Lechtaler Hauptortes  entlang stolzierte. Es war der Maler Matthias Schmid, der auf Anna Knittel und ihr Talent aufmerksam gemacht worden war. In ihren 1910 geschriebenen Memoiren erinnert sie sich an das Gespräch, das Schmid, Anton Falger und ihr Vater da mit ihr führten. Auch daran, dass Schmid predigte, sie müsse einen eisernen Willen beweisen und hart an ihren Zeichnungen arbeiten. Er würde im Herbst wiederkommen, um das Ergebnis zu betrachten.

Schmid kam wieder, die Arbeiten Anna Knittels überzeugten und so wurde die Entscheidung getroffen, dass Anna – finanziell unterstützt von Anton Falger – in München studieren solle. Bereits am 28. Oktober 1859 machten sich Anton und Anna Knittel zu Fuß auf den Weg in die bayerische Residenzstadt.

Noch in den folgenden 60 Jahren sollte die staatliche Kunst-Akademie in München keine Frauen aufnehmen und auch die Elbigenalperin musste in einer Vorschule der Akademie studieren. Ein akademischer Grad blieb ihr verwehrt, doch sie durfte malen – und das konnte sie richtig gut.

Ein weiteres Bild der Geierwally, das Anna Stainer Knittel selbst gemalt hat. 

Die Lehrjahre der jungen Frau verliefen zwar turbulent, aber sie wurde immer besser. Das Jahr 1863 sollte schließlich entscheidend sein – sowohl für das echte Leben der Anna Knittel als auch für den Mythos. In dem Jahr kaufte das Landesmuseum Ferdinandeum um die damals horrende Summe von 44 Gulden Knittels Selbstportrait in Lechtaler Tracht, was ihr ermöglichte, nach Innsbruck zu ziehen und dort eine Zeichenschule für Mädchen zu gründen. 1863 ließ sie sich auch zum zweiten Mal wagemutig und todesverachtend zu einem Adlerhorst abseilen und prägte damit das Bild der Geierwally .

Die Bergbauern des Lechtals kontrollierten stets den gefräßigen Adlerbestand, indem sie die Jungen raubten. Der Verlust eines einzigen Schafes konnte darüber entscheiden, ob eine Familie hungern oder satt sein würde. Zu dem Nest in der Saxerwand, aus dem die 22-jährige Anna bereits ihr zweites Adlerjunges holen sollte, hatten sich die Männer der Region nicht gewagt. Über die mutige Episode wurde in der lokalen Presse berichtet. Und der Mythos nahm seinen Lauf.

Der bayerische Schriftsteller Ludwig Steub, der mit seinen Erzählungen das romantische Sehnsuchtsbild der Tiroler Alpen prägte und ein Stück weit dazu beigetragen hat, den Tourismus in die Berge zu bringen, war von der Geschichte ziemlich begeistert. Er machte daraus eine Erzählung, welche Matthias Schmid illustrierte, Wilhelmine von Hillern bald zu einem Roman inspirierte und Catalani zur Oper La Wally.

Anna Knittel soll von der Romanfigur zumindest irritiert gewesen sein, schwerst angegriffen fühlte sie sich aber von den Illustrationen Matthias Schmids’. Der Maler hatte den Augenblick, in dem sie den jungen Adler aus dem Nest nahm, nicht mit ihrem Gesicht sondern mit ihrem Rücken zum Betrachter festgehalten. Und die Reduktion der physisch wie psychisch höchst schwierigen Situation auf ihren „Hintern“ ließ Anna Knittel keine Ruhe.

Um als ganze Person wahrgenommen zu werden, ging die Künstlerin rasch daran, ihre eigene Version des Abenteuers zu malen. Dieses Bild zeigt eine Frau mit rotem Kopftuch und in Männerhosen. Allein dadurch, dass sie den auf das Adlerjunge in ihrer Hand gerichteten Blick – im Bewusstsein des ungewöhnlichen Balanceaktes – nicht hebt, strahlt diese Frau eine besondere Hingabe aus. Die Präsentation des Bildes war Anna Knittel auch so wichtig, dass sie ihren Vater einen ausgeklügelt kunstvollen Rahmen dafür schnitzen ließ.

Die Geierwally war auch ein Motiv in der Werbekampagne "Starke Land" der Tirol Werbung Anfang der 1990er.

In jeder Hinsicht fernab der immer größer und bunter werdenden Geierwally-Arena machte sich Anna Knittel als Porträtmalerin in Innsbruck einen Namen. Ganz gegen den Willen ihrer Eltern heiratete sie dort auch die Liebe ihres Lebens. Nach eigenen Angaben hatte Anna Knittel zuvor nicht weniger als 30 Heiratsanträge abgelehnt, bei Engelbert war sie sich jedoch sicher, bestand auf ihr Recht, den Gatten selbst auszusuchen, heiratete Stainer und gründete mit ihm ein Geschäft in der Innsbrucker Maria-Theresien-Straße, wo sie beide ihre Arbeiten ausstellten und verkauften.

Dass die Künstlerin einen Doppel-Namen wählte und so ihren Mädchennamen beibehielt war für diese Zeit so ungewöhnlich, wie ihr kurzes Haar oder dass sie nach der Heirat darauf bestand, ihr eigenes Bankkonto zu behalten. In sechs Jahren bekam Anna Stainer-Knittel vier Kinder, was sie jedoch nicht daran hinderte weiter zu malen und zu unterrichten.

Landschafts- und Blumenmalerei sollten ihre Schwerpunkte werden, nachdem der Markt der Porträtmalerei aufgrund des Siegeszuges der Fotografie zusammengebrochen war. Bereits 1891 wurden die Werke der Künstlerin im Ferdinandeum ausgestellt und 1911 widmete ihr das Landesmuseum eine Retrospektive. Anna Stainer-Knittel arbeitete bis zu ihrem Tod im Jahr 1915. Ihr letztes Selbstportrait, das eine Frau zeigt, die selbstsicher und in Frieden mit sich und dem Alter ist, blieb unvollendet. Auch das passt zu ihrer Geschichte. Anna Stainer-Knittel hat einer Zeit die Stirn geboten, die derart selbstbestimmte Frauen noch gar nicht kannte. Ganz abseits der Geier und der Wally darf sie als Tiroler Superstar bezeichnet werden. Denn das war sie. 

 

Geierwally Freilichtbühne

Alexandra Keller

ist freie Journalistin und Autorin. Sie lebt und arbeitet in Innsbruck.