Wilde Symphonie

Natur
Juni 14, 2023
Der Grawa-Fall mit seinen 85 Metern ist der breiteste Wasserfall der gesamten Ostalpen und übt nicht nur auf Naturliebhaber eine besondere Anziehungskraft aus.
Rauschen und prasseln und rauschen und prasseln und rauschen und prasseln. Bei geschlossenen Augen entfesselt die Symphonie des fallenden Wassers einen innerlichen Sog, der schwer in Worte zu fassen ist. Beruhigend? Auf jeden Fall. Meditativ? Sicherlich. Reinigend? Unbedingt. Entspannend? Aber klar. Religiöse Menschen versuchen vielleicht, den Effekt mit der meditativen Wirkung von Gebetswiederholungen zu vergleichen und Musiker:innen mit dem anhaltend spannenden Thema eines Musikstücks. Alles vergeblich. Es reicht nicht. Der großzügigen Kraft dieser Naturgewalt nur einen Sinn zu widmen, ist viel zu geizig. Das wird glasklar, sobald die Augen geöffnet werden und der klitzekleine Lidschlag einen Schalter umlegt, der auf wundersame Weise alle Sinne zum Leben erweckt. Ja, so war’s gemeint!
Plötzlich kann das Gletscherwasser geschmeckt werden, die Finger wollen den Fels ertasten und die Wasserwucht spüren, die Nase kann sich an diesem feuchtgrünen Gebirgsparfüm nicht satt riechen und die Augen können sich nicht satt sehen. Wie denn auch. Vor ihnen tanzen die Kaskaden des Grawa-Wasserfalls über 180 Meter in die Tiefe. Zum Rauschen und Prasseln gesellt sich in ureigenem Takt Rumpeln und Donnern und Zischen. Wasserwolken und Sprühnebel brechen das Sonnenlicht in tausende kleine Regenbögen und nie, gar nie sind die Bilder gleich.

Wie die Essenz aus der hochalpinen Zauberküche adelt der Grawa-Wasserfall nicht nur das Stubaital, sondern das Wasserschatz-Land selbst. Rund 10.000 Quellen sind es, die Tirol Trinkwasser in höchster Qualität schenken und sich mancherorts zu einem anhaltend rauschenden Fest treffen – wie hier.
Dass der Grawa-Fall mit seinen 85 Metern der breiteste Wasserfall der gesamten Ostalpen ist, erhöht seine machtvollen Reize. Sie werden von einem bizarren, Regenwald-ähnliche Grün umrahmt und sie sind noch dazu gesund. Wissenschaftler haben nachgewiesen, dass das Wasser des Grawa-Wasserfalls kurz vor dem Aufprall auffallend feinverstäubtes Aerosol produziert. Diese Mikropartikel des Lebenselixiers sind so klein, dass sie in die kleinsten Ästchen der oberen Atemwege sowie der Lungen eindringen und sie regelrecht putzen können. Irgendwie muss der Körper wissen, dass dieser Wasserfall gut tut, ziert er sich doch regelrecht, sich abzuwenden oder eine der Holzliegen auf dem Grawa-Observatorium zu verlassen, das sich fast demütig in die erhabene Szenerie einfügt.

Thomas und seine Frau Johanna Krösbacher müssen sich davon nie losreißen, ist diese Arena doch so etwas wie ihr Zuhause. Die beiden bewirtschaften die Grawa Alm, die zum Bauernhof der Familie in Fulpmes gehört. „Ich halte immer wieder inne und schaue rüber“, bestätigt Thomas den Suchtfaktor, gegen den er nie ankämpfen muss. Die Musikbox auf der Terrasse der Alm verstaubt schon seit Jahren. Den Gästen sei es viel lieber, den Wasserfall zu hören, oder die Kuhglocken, weiß Thomas, den das nahe Prachtwasser auch im Winter fasziniert, wenn es in aller Ruhe vereist und der Wasserfall zum sportlich-abenteuerlichen Sehnsuchtsort für Eiskletter:innen wird. Als Dornröschenschlaf bezeichnet Thomas diesen Zustand. Schön. Fängt der Eisgigant dann im Frühjahr an zu knacksen, wird auch die Grawa Alm bald wieder eingehüllt von der wilden Symphonie. Thomas ist dazu berufen, die Suche nach dem passenden Wirkungs-Wort des Grawa-Wasserfalls zu beenden. „Er ist berauschend“, sagt er. Stimmt.