Viel Gespür für Schnee

22.04.2025
Klima
Wissenschaft
Alexandra Keller
Susanna Mitterer ist Geographin, Mitgründerin von Girls On Ice - Austria, Mitarbeiterin beim Österreichischen Kuratorium für Alpine Sicherheit – und sie ist Kälte gewohnt. „Nur wer faul ist, friert“, zitiert sie da eine Weisheit aus Spitzbergen, wo sie als Studentin laufen durfte. Wenn es um Berge, Schnee oder Gletscher geht und vor allem darum, die Natur so sicher wie in vollen Zügen zu genießen, ist Susanna eine absolute Kennerin. Dass sich die hochalpinen Landschaften im Zuge des Klimawandels und der Gletscherschmelze verändern, ist natürlich keine Frage für sie. Spannend ist aber, wie: „Wenn eine Fläche eisfrei wird, dann verändert sich das Ökosystem, das eine geht, das andere kommt. Auf den eisfrei geworden Flächen, kann sich auch Neues entwickeln“, sagt sie. Ein Trost, ein schwacher.

Nebelschwaden. Und Regentropfen. Mystisch wird hier und dort ein klarer Blick auf Innsbruck, das Hafelekar, das Inntal oder den Patscherkofel geschenkt, um sich wieder im wolkigen Dunst aufzulösen. Bizarr ist das, im ersten Moment ist es auch ein wenig verflixt. Im zweiten Moment schon gar nicht mehr. Dem unbekümmert launenhaften Wetter in den Tiroler Bergen muss stets mit der richtigen Ausrüstung und einer Portion positivem Gleichmut begegnet werden. Diese Gebote sind Susanna Mitterer nicht fremd. Ganz im Gegenteil, ist die Innsbruckerin doch mit und in der Natur groß geworden. Die Seegrube, dieser großartige und der Tiroler Landeshauptstadt so nahe hochalpine Prachtplatz, spielte dabei eine dynamische Rolle.

unsereins: Was bedeutet die Seegrube für dich?

Susanna Mitterer: Da fühle ich mich einfach daheim. Da war ich als Kind oft, da war ich als junge Erwachsene oft, da bin ich jetzt oft mit meinen Kindern. Es ist einfach ein super Platz – im Sommer wie im Winter. Am schönsten natürlich im Winter, wenn’s frischen Neuschnee gibt.

unsereins: Du bist Mama vor vier Jungs. Wie bringst du ihnen die Liebe zur Natur bei?

Susanna: Wir gehen viel raus und da lernen sie es selber lieben. Weil es einfach schön ist und weil man viel draußen erleben kann. Die Natur ist ja viel – einerseits ein Spielplatz, sie kann eine Sportstätte sein aber auch ein wunderbarer Erholungsraum. Ich hoffe, dass wir ihnen das mitgeben und dass sie das vielleicht so weitermachen.

Sie versteht es jedenfalls, ihren Jungs die Natur schmackhaft zu machen. Einfach so. Wie nebenbei. Und das nicht nur mit dieser, zahlreichen Tirolerinnen und Tirolern so eigenen Selbstverständlichkeit, sondern auch mit viel Wissen. Susanna ist physische Geographin, Mitarbeiterin im Österreichischen Kuratorium für Alpine Sicherheit (ÖKAS) und Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Schnee und Lawinen(ÖGSL).

Für das ÖKAS beschäftigt sie sich beispielsweise intensiv und federführend mit dem Fachmagazin analyse:berg. Das Magazin erscheint halbjährlich und ist für alle, die sich für das Leben in den so vielfältig genutzten und für den Breitensport so reizvollen Bergen interessieren, eine unerlässliche Wissensquelle. Mit den diffizil ausgewerteten Unfallstatistiken werden darin nicht nur die tragischen Seiten der alpinen Bergfreuden aufzeigt, sondern auch wertvolle Denkanstöße für einen realistischen Umgang mit Gefahren und Risiken gegeben.

„Die große Frage ist, wie man Unfälle und vor allem Tote vermeiden kann“, sagt Susanna. Ein großes Ziel ist das, ein extrem wichtiges, waren im Winter 2024/25 doch seit langem wieder über 300 Alpin-Tote zu beklagen gewesen. „Ein großer Teil der Toten geht auf Herzkreislaufstörungen zurück und da wäre zum Beispiel eine Präventionsmaßnahme, ab einem gewissen Alter zur Gesundenuntersuchung zu gehen und den Sport in den Maßen zu betreiben, wie der Körper das kann“, spannt Susanna den Bogen hin zur achtsamen Eigenverantwortung, die Basis für allerlei Lebensspaß ist. Auch auf dem Schnee. Und überhaupt in den Bergen.

unsereins: Wie lernt man Selbsteinschätzung?

Susanna: Ich glaube, Selbsteinschätzung sollte von innen raus kommen, man sollte einfach zuhören und das zulassen. Dass man sagt, ich bin zwar gestern da raufgelaufen, aber heute fühle ich mich nicht so und dann drehe ich einfach um. Das Umdrehen ist kein Scheitern sondern gehört dazu. Wenn mein Tun nur für mich Konsequenzen hat, dann kann ich tun was ich will. Wenn das auch Konsequenzen für andere hat, muss man Verantwortung übernehmen.

unsereins: Sind wir in Tirol – im Bezug auf die Bergrettung und den stets bereiten Rettungs-Hubschraubern – verwöhnt?

Susanna: Da sind wir sehr verwöhnt. Wenn man einmal wo war, wo das nicht so ist, lernt man das auch. Aber es sollte auch den Menschen hier bewusst sein, dass nicht immer ein Hubschrauber kommen kann – die Bergung dauert dann womöglich länger und es kann Auswirkungen haben auf die Verletzungsfolgen. Man ist hier in Tirol verwöhnt, aber ich habe nicht das Gefühl, dass das ausgenutzt wird.

Kälte, Schnee und Regen machen Susanna gar nichts aus, schon gar nicht auf ihrer geliebten Seegrube.

Berge, Schnee und Gletscher sind Susannas Begleiter seit sie sich bewegen und seit sie denken kann. Ziemlich früh hat sich bei der Innsbruckerin eine starke Neugier für die Natur herauskristallisiert. Der Wissensdurst für das faszinierende Zusammenwirken aller relevanten Teile – ob Land- und Gesteinsformen, Klima, Vegetation, Gewässer, Atmosphäre oder Biosphäre – machte ihr die Wahl des Studiums leicht. Und es scheint auch bis zu einem gewissen Grad in ihren Genen zu stecken.

unsereins: Wie wurde deine Natur-Leidenschaft geprägt?

Susanna: Ich bin einfach so aufgewachsen. Das verdanke ich meiner Familie und meinen Eltern. Meine Eltern sind auch so aufgewachsen. Wir waren immer am Wochenende in der Natur. Mein Opa war Forscher, mein Papa ist Forscher und ich glaube, ich habe immer viele Fragen gestellt.

unsereins: Was sind die Forschungsgebiete deines Opas und deines Papas?

Susanna: Mein Opa war Glaziologe, war über ein Jahr in der Antarktis und hat dort auch überwintert. Und er hat die Gletschermess-Reihe am Hintereisferner begonnen. Mein Papa ist Erdwissenschaftler, Mineraloge. Ich habe halt immer jemanden gehabt, der meine Fragen beantwortet hat oder versucht hat, sie zu beantworten. Natur ist einfach spannend und hat mich immer begeistert. Am besten ist, man macht das, was einen interessiert. Dann macht man es mit Herzblut.

In der großen Welt der Geographie, der wahrlich vielschichtigen Wissenschaft der Erdoberfläche, hat ihr Herz Feuer für das Kalte gefangen. Die Kryosphäre, also jene Sphäre, die sich mit Eis und Schnee befasst, wurde zu Susannas wissenschaftlicher Spielwiese. Ihre Diplomarbeit schrieb sie über Gletscher, die Doktorarbeit über Permafrost wurde dann von ihren vier Jungs ganz wunderbar auf Eis gelegt und sie erinnert sich lebhaft an die kühlen Welten, die sie im Zuge ihre wissenschaftlichen Exkursionen kennenlernte. Dass sie dabei die Schönheit und die Herausforderungen des arktischen Winters erkunden durfte, beschreibt sie als unglaubliches Glück.

unsereins: Wo du früher gearbeitet hast, war es oft richtig eiskalt. Wie kalt war für dich das Kälteste?

Susanna: Das ist ein bisschen schwer zu sagen. Das Kälteste an Temperatur gemessen wahrscheinlich minus 20 Grad. Aber wenn Wind geht, dann gibt’s diesen Windchill-Effekt und dann kann sich das schon viel, viel kälter anfühlen. Da muss man schauen, dass man in Bewegung bleibt. In Spitzbergen hat es geheißen, wenn man friert, soll man sich bewegen. Nur wer faul ist, friert.

Ein echt großartiger Spruch für Minusgrade, in denen es auch rasch brenzlig werden kann. Vor allem für die Ohren, die Finger und die Zehen. In Spitzbergen können die Temperaturen auf unter 40 Grad sinken. Ohne ausreichenden Schutz kann die Körpertemperatur da schon nach 30 Minuten gefährlich absinken. Normal liegt sie bei rund 37 Grad, schon 35 Grad gelten als Notfall und unter 26 Grad Körpertemperatur ist alles aus. An Susanna haben die großen Kälten keine Spuren hinterlassen, außer in ihrer Erinnerung und dem durch die Erlebnisse angefachten Geographischen Wissensdurst, den sie auch durch intensive Beobachtung ihrer Berge zu stillen versteht. Ihre Welt verändert sich. Rasend schnell.

unsereins: Wie lange werden wir noch Gletscher haben?

Susanna: Es wird wahrscheinlich bis 2100 in den österreichischen Alpen keine Gletscher mehr geben. Es geht momentan sehr schnell voran. Ein Drittel der Ötztaler, Pitztaler und Stubaitaler Gletscher wird in fünf Jahren weg sein. Das führt natürlich zu großen Veränderungen im Hochgebirge. Die Gletscher gehen zurück und es gibt vielleicht auch Möglichkeiten für neue Ökosysteme.

unsereins: Wie kann man sich diese neuen Ökosysteme vorstellen?

Susanna: Das kann ich nicht so im Detail beantworten, da gibt es vor allem in Innsbruck ganz tolle Forscher, die sich damit auseinandersetzen. Natürlich – wenn eine Fläche eisfrei wird, dann kommt wieder Vegetation und entwickelt sich weiter.

unsereins: Wie sollen wir auf diese Veränderungen reagieren?

Susanna: Wir werden uns anpassen müssen, doch wir sind wahrscheinlich die Spezies, die sich am schlechtesten anpassen kann – im Vergleich zur Vegetation oder Tieren.

unsereins: Haben die Veränderungen im Hochgebirge auch Vorteile?

Susanna: Ja, manche Bergtouren werden vielleicht sogar leichter, weil man nicht über den Gletscher gehen muss. Manche Touren aber werden sicher schwieriger oder gefährlicher, weil man den Zugang anders wählen muss.

Susannas Wissen über die teils unheimlich anmutende Veränderung des Antlitz’ der Alpen ist breit gefächert. Der Klimawandel war schon während ihres Geographie-Studiums vor über 20 Jahren präsent und sie wünscht sich, „dass es ernst genommen wird und man die Verantwortung übernimmt – für die nächsten Generationen, die da kommen.“

Um allen aber auch den nächsten Generationen die Leidenschaft für die Naturwissenschaften und die Berge weitergeben zu können, hat Susanna eine professionelle Ausbildung zur Bergwanderführerin absolviert. Und vor fünf Jahren gründete sie gemeinsam mit ihrer Freundin – der an der Universität Innsbruck arbeitenden Glaziologin Lindsey Nicholson – den Verein Girls on Ice – Austria. Ein wunderschönes Projekt. „Es geht darum, jungen Frauen zwischen 15 und 17 Jahren die Naturwissenschaften und die Natur oder auch den Bergsport ein bissl näher zu bringen und ihnen das zu zeigen“, sagt Susanna – und sie ergänzt: „Es gibt ja Familien, die nicht so privilegiert sind und so haben die jungen Frauen die Möglichkeit, das kennen zu lernen und vielleicht zu entdecken, dass es sie interessiert.“ Im Rahmen der Girls on Ice-Expeditionen campieren die Mädchen zehn Tage im hochalpinen Raum. Eine Forscherin, eine Künstlerin und eine Bergführerin betreuen sie und es ist federleicht nachvollziehbar, dass diese Erfahrung ganz viel mit den Mädchen macht. Viel Positives. Susanna: „Es sind sehr inspirierende Frauen dabei.“ Inspirierend wie sie.

Alexandra Keller

ist freie Journalistin und Autorin. Sie lebt und arbeitet in Innsbruck.